Anatomisch bedingte, unterschiedliche Technikausführung im Reißen
von Peter Krinke
Anhand dieser sporadischen Zusammenstellung von 2 gerade im Training anwesenden Sportlern kann auch der Laie erkennen, dass da eine Standarddefinition mit Vorgabe eines feststehenden
Leitbildes für die Technik des Reißens nicht gut funktionieren kann.
Für die, denen eine Einschätzung schwer fällt: Links der Sportler ist ca. 1.85 groß und hat lange Arme und Beine bei einem relativ kurzen Rumpf. Der rechts stehende Sportler ca. 1.68 m
ist kleiner mit kurzen Armen und Beinen und relativ langen Rumpf.
Ob jemand z.B. kurze Arme hat erkennt man daran, dass der mit kurzen Armen sich quasi etwas bücken muss um aus der tiefen Hosentasche sein Taschentuch zu greifen. Der Langarmige hat
damit kein Problem und kann sich aufrecht stehend sogar noch mit der Hand in der Tasche in der Mitte des Oberschenkels kraulen.
Es folgen Technikbeispiele von Sportlern mit unterschiedlichen Anatomien.
Das ist ein Foto des 18-Jährigen Oliver Caruso von 1992. Daran ist zu erkennen, dass Oliver insgesamt gesehen relativ kurze Arme im Verhältnis zu den eher langen Beinen hat.
Oliver Caruso hält seit dem 02.05.1998 den deutschen Rekord in der -94kg Klasse mit 182,5kg im Reißen. (Der aktuelle Weltrekord steht mit 188kg nur 5,5kg darüber.) Außerdem zeichnet er
immer noch den deutschen Juniorenrekord mit 160,5kg bis 85kg sowie die deutschen Rekorde in der A und B-Jugend.
Aus diesem Hintergrund wurde folgendes Leitbild der Technik im Reißen als Vorgabe für alle konstruiert.
Mir liegen von Oliver die wichtigsten Parameter für das Reißen aus den Jahren 1995 bis 2003- Messungen aus 9 bedeutenden Wettkämpfen vor. In diesen Angaben schwankt z.B. beim Start die Vorlage der Schulter zur Hantel zwischen 6 und 10 cm.
Bei seiner 2x innerhalb von 6 Monaten gerissenen Höchstleistung von 182,5kg stand die Schulter einmal 6 und einmal 9 cm über der Hantel beim Start.
Unterschiedliche Werte zeigen sich z.B. auch beim Hüftwinkel in Höhe von v1 bei diesen 9 Messungen zwischen 73 und 89°. Ähnliche Differenzen gab es auch bei weiteren Parametern.
Diese Ungleichheiten sind einerseits im Meßfehlerbereich erklärbar und auch, dass es wohl im Grenzbereich einer Leistung nicht immer möglich ist einen genau deckungsgleichen Bewegungsablauf beim
Reißen zu produzieren.
Grundsätzlich kann ich - das ist meine Meinung - mit Einbezug von Oliver Carusos anatomischen Voraussetzungen keine groben Fehler im speziellen Bewegungsablauf bei Olivers
Reißtechnik erkennen.
Es wäre aber interessant gewesen mal die Füße etwas breiter und die Fußspitzen beim Start etwas auseinander zu stellen, dadurch
wäre evtl. eine geringere Überlagerung der Schulter über der Stange notwendig und eine engere Hantelführung an der eigenen KSP-Linie und etwas mehr Beineinsatz in der Startphase möglich
gewesen.
Anhand eines individuellen Körperbaues und dem dazu analog angepassten Technikstils kann daher kein allgemeines Leitbild für alle konstruiert werden welches auch so umzusetzen geht.
Wenn jemand Picassos Pinsel aus seinem Nachlass ersteigert und dann meint er könnte damit die gleiche Malkunst auf die Staffelei bringen, funktioniert das sicherlich auch nicht.
Es gibt aktuell in der Techniklehre manchmal recht seltsame Gedankengänge und Umsetzungen auf die ich dann später in Teil 4 noch komme.
Der 2–fache Olympiasieger und Ex-Weltrekordler u.a. im Reißen mit 212kg im SS-Gewicht, der Iraner Rezzazadeh, mit ca. 150kg Körpergewicht bei etwa 1,85m ist ausgestattet mit
kurzen Armen, kurzen Beinen und einen ziemlich langen Rumpf. Bei diesen anatomischen Voraussetzungen macht es dem massigen Sportsmann große Mühe die Last, welche er beim Abheben als erste
Aktion erst zurück zu sich hinziehen muss um die Hantel überhaupt einigermaßen konstruktiv wegheben zu können. Diese Aktion geschieht dann bei ihm, im Gegensatz zum normalen, überwiegend aus dem
Kreuz.
Sein großer Vorteil liegt anschließend darin, dass Rezzazadeh bedingt durch seine anatomischen Gegebenheiten bei v1 in Idealposition vor dem entscheidenden Zug zu vmax kommt und daraus einen
maximalen Wirkungsgrad in diesem Bereich erzielt. Bemerkenswert dabei wie er die folgende Hantelführung nah an seiner Schwerpunktlinie praktiziert.
Vor ziemlich genau 20 Jahren trainierte ich in kurzem Abstand zwei verschiedene eineiige Zwillingspaare. Beim ersten Zwillingspaar, welche zuvor jahrelang von einem anderen Trainer
ausgebildet wurde, machte ich die Feststellung, dass beide keine deckungsgleichen technischen Bewegungsmuster beim Reißen praktizierten.
Beide ähnelten sich äußerlich sehr, hatten aber auch etwas unterschiedliche Kraftverhältnisse.
Auffällig war, dass der vermeintlich Stärkere die schlechtere Technikausführung praktizierte aber dafür eine höhere und risikoreichere Einsatzbereitschaft zeigte. In der relativen Leistung
lagen beide letztendlich nicht weit auseinander.
Etwa 1 Jahr später konnte ich ein Zwillingspaar - Jugendliche die aktuell den Boxsport ausführten - für das Gewichtheben motivieren. Beide ebenfalls eineiige Zwillingsbrüder, die sich
insgesamt äußerst ähnlich sahen. Ich hatte sehr lange Zeit Mühe beide auf den ersten Blick zu unterscheiden.
Im Bewegungsablauf des Gewichthebens unterschieden sie sich deutlich, genauso in der Psyche.
Der eine sensibel mit guter Feinmotorik, der in seinen Hebungen deutlich vermehrt ballistische Ausführungsformen (günstig) erkennen ließ.
Sein Bruder führte dagegen die Technik im Reißen und Stoßen recht robust und mit viel Energie aus. Erzielte anschließend während seiner gesamten Laufbahn keine durchgehend kontinuierliche und
sichere Bewegungsausführung in den beiden Disziplinen.
Beide erzielten nach Beginn des Gewichthebens schon bald 100 und mehr Relativpunkte.
Mit Abschluss der Lehre und Beginn des Berufslebens verringerte sich bei Beiden (wie heutzutage bei den Meisten) ihr Engagement im Gewichtheben und nach mehr oder weniger kurzer Zeit gingen sie
dem Gewichthebersport verloren.
Was ich hiermit ausdrücken will ist, dass selbst unter „baugleichen“ Zwillingen eine empfohlene „Standardtechnik“ nicht einmal das Optimale abdeckt.
In den Lehrempfehlungen des BVDG proklamiert man pauschal das Ultimative und Perfekte im Gewichtheben ohne zu verraten wie man diese Standards und mit wem erzielen soll.