Leidbild Ausstoßen
von Peter Krinke
Es soll nicht der Eindruck entstehen, als würde ich Matthias Steiner seine OS Goldmedaille von 2008 nicht gönnen. Matthias hat seinen Olympiasieg verdient mit seinem überragenden Talent (siehe auch Kapitel 4), seiner enormen Willenskraft und seinem engagierten Einsatz erreicht. Hinzu kam die bevorzugte Betreuung durch den BVDG über knapp 4 Jahre und geschicktes Taktieren während des Wettkampfes. Außerdem hatte er Glück, dass die herabfallende Hantel im 3. Versuch des Reißens nur leicht seinen Kopf streifte.
Sicher nicht die größte Rolle spielte die Technik in seinen Versuchen, wie man dies jetzt zu verkaufen versucht. Da bin ich doch sehr verwundert, dass man die Leistung von 461 kg eines Olympiasiegers im Zweikampf als Resultat technischer Perfektion darstellt.
Ein Beispiel: Der Olympiasieger von 1988 Yuri Zakharevich erzielte damals in der 110 kg-Klasse 210 kg im Reißen und 245 kg im Stoßen und stellte bereits als 19-Jähriger 1982 in der 100 kg Klasse mit 195 kg und 225 kg neue Seniorenweltrekorde auf.
Ich begegnete Yuri im Sommer 1989 in Aalborg (Dänemark) bei den World Masters Games. Er war mit russischen Freunden (Masterkollegen) als Tourist mit eingereist. Dort erfuhr ich, dass Yuri obwohl er über 1 Jahr lang keine Hantel bewegt hatte, bei seinem 1. Training auf Anhieb 170 kg im Reißen zur Hochstrecke brachte!
Für ein paar neue Adidas-Heber-Schuhe war er auch bereit außer Konkurrenz und untrainiert das Reißen auf dieser Veranstaltung zu demonstrieren. Leider waren keine neuen Heber-Schuhe dieser Marke und seiner Größe aufzutreiben.
Damit will ich deutlich machen, dass hohe Leistungen nicht ein Beweis für eine hoch entwickelte Technik im Gewichtheben sind, sondern das Talent die größte Rolle spielt.
Wie viele technisch sehr gute Gewichtheber würden mit bester Vorbereitung 170 kg Reißen können?
Mir fiel bei Yuri der harmonische Körperbau (Knochenbau) auf, der es ihm wohl ermöglichte sich eine optimale Technik anzueignen. Dazu kam ein besonderes Krafttalent durch seinen Muskelfasertyp.
Übrigens, schon damals zeigte Yuri, wie auch eine andere Gewichtheber-Ikone David Rigert, einen kurzen Ausfallschritt mit angewinkelten Unterschenkel im vorderen Bein.
Yuri erzielte seinen Olympiasieg 455 kg (210 und 245) mit 27,5 kg Vorsprung.
Die technischen und trainingsmethodischen Möglichkeiten sind nach meiner Einschätzung im Gewichtheben bei weitem noch nicht ausgereizt und bei einem optimal angewendeten Know How, ist das Ende der Weltrekorde noch nicht absehbar. (Dazu in einem späteren Artikel mehr.)
Nach meinen subjektiven Beobachtungen haben etwa 80 bis 90% der Fehlversuche bei internationalen Veranstaltungen im Spitzenbereich der Leistung ihre Ursache in technischen Unzulänglichkeiten. Beim Ausstoßen liegt es oft am fehlerhaften Schwungholen und schlampigen Abfangen der Last im Ausfallschritt.
Matthias Steiner verlor in Peking seinen 1. Versuch mit 246 kg aufgrund seiner ungünstigen Technik mit der fehlerhaften Fußstellung im Ausfallschritt. Dadurch konnte er die Last nicht fixieren, lief nach vorne und ließ die Hantel fallen.
1980 hatten der damals für die Trainerausbildung Verantwortliche im BVDG Lothar Spitz zusammen mit dem leider viel zu früh verstorbenen Biomechaniker Dr. Pietka Lehrbilder (keine Leitbilder) geschaffen. Mit der bildlichen Darstellung für Trainer und Sportler kann man auch heute noch gut etwas anfangen.
Es ist grundsätzlich schon sehr ungünstig einen Superschwergewichtler – genauso wie einen Liliputaner - als Muster für ein „Leitbild“ der breiten Masse der Heber und Heberinnen zu präsentieren. Auf die Idee einen Traktor - der auch 4 Räder hat - mit einem VW-Golf zu vergleichen, käme wohl auch keiner.
Diese neuen „Leitbilder“ machen auf mich eher den Eindruck, als wollte sich damit jemand selbst eine Legende basteln, statt den Trainern und Sportlern eine vernünftige und im Einklang mit der Aussage stehende Hilfe zu vermitteln.
Dieser Versuch scheiterte nicht an fehlender Kraft. Im Vorfeld stieß Matthias mehrmals 260 bis 270 kg von den Böcken, im Schwungdrücken wurden 210 kg erzielt, außerdem bewältigte er
einen 10er-Satz Kniebeugen mit 260 kg und 3er-Wiederholungen mit 300 kg.
Fast genauso passierte dieser Fehler Victor Scerbathis, seinem direkten Konkurrenten der im Reißen vor ihm lag, im entscheidenden 3. Versuch
mit 257 kg.
Bei einem gültigem Versuch von Scerbathis hätte Matthias Steiner 262 kg für die Goldmedaille Stoßen müssen, wobei dessen Gelingen eher unwahrscheinlich war.
Vor Jahren verletzte sich sein Vorgänger Olympiasieger Ronny Weller während einer Weltmeisterschaft bei solch einem „Fechtausfall-Schritt“ den inneren Meniskus (deutlich
verfolgbar in EUROSPORT) beim Ausstoßen der Last und musste den Wettkampf abbrechen.
Im neuen Leidbild mit Matthias Steiner wird die Fußsetzung im Ausfallschritt richtig beschrieben, ich kann aber mit
noch so einer dicken Lupe die dabei nach innen zeigenden Fußspitzen nicht entdecken!
Lehrbild 1980: Alt aber hochaktuell und sehr gut für Jung und Alt vermittelbar!